2. Juni 2007: Abstieg in die Oberliga Hessen
Bereits einige Monate bevor das komplette Ausmaß der finanziellen Situation bei den Lilien deutlich wird, erreicht der SV 98 einen sportlichen Tiefpunkt. Im Stadion an der Grünwalder Straße unterliegen die Südhessen der Zweitvertretung des FC Bayern mit 0:2 und steigen aus der Regionalliga ab. Der Misserfolg auf dem grünen Rasen fügt sich nahtlos in das Gesamtbild der Lilien ein, wie Jürgen Koch (damaliger Vorstand Fanverein) rückblickend erklärt: „Der Verein war unheimlich zerstritten, auch innerhalb der Fanszene. Alles war zersplittert. Zudem war die wirtschaftliche Situation undurchsichtig und schlecht.“
Der SV 98 als sportliches Aushängeschild der Region – zu diesem Zeitpunkt undenkbar. „In der Stadtgesellschaft waren die Lilien kein Thema“, sagt daher auch der heutige Fanbeauftragte Alexander Lehné und fügt an: „Wieso auch? Wir waren ein besserer Amateurverein.“
Die Problematiken und Querelen sorgen dafür, dass auf personeller Ebene dringend eine Neuausrichtung angestrebt wird. Die Suche nach einem neuen Präsidenten hat oberste Priorität. Markus Pfitzner (heutiger Vizepräsident) ist schon zu dieser Zeit rund um den SV 98 aktiv und verrät: „Es wurde damals jemand gesucht, der das Schiff ein wenig auf Kurs bringt.“
19. September 2007: Hans Kessler wird neuer Präsident
Der Mann, der die Lilien in eine bessere Zukunft führen soll, heißt Hans Kessler. Der damals 58-Jährige wird von Oberbürgermeister Walter Hoffmann zur Kandidatur überredet und in der Orangerie einstimmig zum neuen Präsidenten gewählt. „Es gab keinen Gegenkandidaten, keine Gegenstimme, also wurde ich Präsident von Darmstadt 98“, fasst Kessler heute lapidar zusammen, was sich wenig später als vielleicht größte Herausforderung seines Lebens herausstellen sollte. Die offene und ehrliche Art Kesslers löst damals sofort etwas bei den Anhängern und Vereinsmitgliedern aus, so Lehné: „Es gab Spruchbände und Proteste gegen das Vorgänger-Präsidium, nach der Wahl Kesslers war dann ein Hauch von Aufbruchsstimmung zu spüren.“
Zumal Kessler sofort konkrete Ziele definiert: Das Erreichen der 3. Profiliga innerhalb der kommenden Jahre, die Errichtung eines Nachwuchsleistungszentrums und die Sicherung der sportlichen Erfolge der Amateurabteilungen. Als wesentlichen Punkt führt er dabei das Verhältnis zu den Anhängern des SV 98 an: „Die Fans mitzunehmen, ist Bringschuld des Vereins, der Verein braucht seine Fans und seine Fans brauchen den Verein.“
Des Weiteren stehen die Analyse der Vereinsstruktur, die Infrastruktur des Stadions und wirtschaftliche Transparenz als wichtige Punkte auf der Agenda des neuen Präsidiums.
14. Dezember 2007 – Steuerfahndung durchsucht Räumlichkeiten
Doch die Aufbruchsstimmung sollte nicht lange anhalten. Ab dem 14. Dezember ermittelt die Darmstädter Steuerfahndung am Böllenfalltor, die Beamten durchsuchen unter anderem die Geschäftsstelle des Vereins. Eine Nachricht, die Hans Kessler unvorbereitet trifft: „Ich war noch in der Euphorie des einstimmig gewählten Präsidenten und sah mich nicht irgendwo bei der Staatsanwaltschaft. Dort habe ich dann feststellen müssen, dass der Verdacht der Steuerverkürzung besteht.“ Insbesondere die Spielverträge der zurückliegenden Jahre sind der Grund für die Ermittlungen gegen die Lilien. Kessler sichert dem Finanzamt größtmögliche Unterstützung zu und wird wenig später mit den erschütternden Zahlen in Höhe von 2 Mio. Euro konfrontiert. Diese können durch Nachverhandlungen bei den Sozialversicherungsbehörden und dem Finanzamt auf „nur“ noch 1,1 Mio. Euro gedrückt werden – immer noch eine scheinbar utopische Summe für den strauchelnden Traditionsverein. Lehné: „Erst gab es Gerüchte, dann eine Razzia auf der Geschäftsstelle. Und dann kam heraus, dass das Finanzamt Forderungen von 1,1 Millionen Euro an den Verein hätte. Für einen Oberligisten, der knapp bei Kasse war, eine total unrealistische Summe.“
Die finanziellen Hiobsbotschaften ziehen sich durch die nächsten Wochen, der Verein muss gegen einen Schuldenberg ankämpfen, der fast nicht zu stemmen ist.
6. März 2008 – Die Lilien verkünden, dass ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt werden muss
Der SV 98 macht seine Zahlungsunfähigkeit am 6. März 2008 offiziell. Sowohl auf der Vereinshomepage als auch in den externen Medien wird verkündet, dass die Lilien Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beim Darmstädter Amtsgericht stellen müssen. Nachdem alle Zahlen gebündelt auf dem Tisch liegen, ist dieser Schritt der letzte Ausweg. Rüdiger Fritsch (im Jahr 2008 als Vizepräsident zu den Lilien gestoßen): „Als Präsidium hatte man die Pflicht, innerhalb von drei Wochen einen Insolvenzantrag zu stellen. Sonst kommt man in die persönliche Haftung.“
Trotz der zahlreichen Negativschlagzeilen der Vormonate erschüttert diese Nachricht alle Lilienherzen auf schwerwiegenden Art und Weise. Der heutige SV98-Geschäftsführer Michael Weilguny erlebt die damalige Situation als Fan und ehrenamtlicher Helfer: „Man wusste, dass es nicht gut um den Verein steht. Aber es war natürlich ein Schock, als es dann zum Insolvenzantrag kam.“
Und auch für Koch bricht eine kleine Welt zusammen: „Es fing eine Existenzangst an. Die Angst, den eigenen Verein, die eigene Heimat zu verlieren.“ Sportlich hätte eine Insolvenz wohl den Zwangsabstieg in die Landesliga bedeutet, zu allem Überfluss zieht sich auch der damalige Hauptsponsor Wella mit sofortiger Wirkung zurück – weitere 50.000 Euro, die den Lilien im Etat fehlen.
6. März 2008 – Info-Veranstaltung in der Lilienschänke
Noch am Abend der Insolvenzverkündung wird zu einer Informationsveranstaltung in die Lilienschänke eingeladen, um dort die Geschehnisse der vergangenen Monate transparent darzulegen, die aktuelle Situation zu erläutern und auch einen Ausblick in die Zukunft zu geben. Einer der anwesenden Personen ist Jürgen Koch: „Hans Kessler hat das einzig Richtige gemacht und ganz klar gesagt, wie die Lage ist.“
Kessler selbst erinnert sich noch genau an diesen Abend: „Die Stimmung war gespannt, die Leute waren emotional und innerlich berührt. Uns ging es darum, zu erklären, was ist passiert und wie läuft so ein Insolvenzantrag ab. Und die Leute waren dankbar zu erfahren, wie es weitergeht.“
Zu Beginn des Abends wird an eine mögliche Rettung und Abwendung des Insolvenzverfahrens überhaupt kein Gedanke verschwendet, zumindest innerhalb der Fanszene ändert sich dies aber im Laufe der darauffolgenden Stunden. Lehné: „Wir lagen eigentlich am Boden und haben uns angehört, was Phase ist. So niedergeschlagen die Leute angekommen sind, so erhoben waren die Köpfe, als sie wieder raus sind. Das war der Moment, wo wir gesagt haben: ‘Keine Ahnung wie, aber wir bekommen es hin. ‘ “
12. März 2008: Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens
Doch allein von Motivation und guten Ideen löst sich der Antrag nicht in Luft aus. Entsprechend erfolgt am 12. März die offizielle Antragsstellung beim Amtsgericht Darmstadt. Die bürokratischen Mühlen beginnen zu mahlen, doch gleichzeitig entsteht rund um die Lilien etwas ganz anderes. Fritsch: „Innerhalb der nächsten Tage passierte Sensationelles. Uns schwappte eine Welle der Sympathie entgegen, die Leute kamen mit zahlreichen Benefizthemen auf uns zu und es wurde zu einem Fanmarsch am kommenden Wochenende aufgerufen.“
Auch bei Kessler sorgt das Echo der Region dafür, dass er sich der Herkulesaufgabe weiterhin stellen will: „Ich habe mir mehrfach überlegt, aufzuhören. Aber wenn ich gesehen habe, mit welcher Intensität und Wucht Darmstadt geantwortet hat, konnte ich nicht hinschmeißen.“
15. März 2008: Sternmarsch
Am Samstag, den 15. März empfangen die Lilien den 1. FC Germania Ober-Roden am Böllenfalltor. Unter dem Motto „1898 Schritte für den SVD – Wir stimmen mit den Füßen für die Lilien!“ setzen rund 800 Anhänger ein Zeichen quer durch Darmstadt und pilgern zum Stadion. Als erste Soforthilfemaßnahme werden neben selbstgefertigten Buttons auch T-Shirts mit dem Aufdruck „Die Lilien bleiben DA“ für zehn Euro verkauft. Das Spiel selbst wird dann vor der Saisonrekordkulisse von 5200 Zuschauern – erwartet wurden rund 500 Zuschauer – ausgetragen. Die Ereignisse des Tages machen deutlich: Der SV Darmstadt 98 lebt und ist entgegen vieler Unkenrufe ein wichtiger Bestandteil der Region. Botschaften, die auch bei Rüdiger Fritsch und dem Präsidium ankommen: „Für uns war das eine Verpflichtung, dass wir diesen Verein retten müssen.“
Zahlreiche Rettungsmaßnahmen
Der Sternmarsch bildet in gewisser Art und Weise den Auftakt zu zahlreichen Rettungsmaßnahmen und Aktionen, um die Lilien weiterhin blühen zu lassen. Es gibt eine Live-Musiknacht, eine Kunstauktion, Trikotversteigerungen, Konzerte und viele Events mit Benefizcharakter. Auch das Kikeriki-Theater erspielt 50.000 Euro zugunsten des SV 98, nahezu die gesamte höherklassige hessische Fußballkonkurrenz aus Hessen Kassel, FSV Frankfurt, Wehen Wiesbaden und den Offenbacher Kickers unterstützt ebenfalls. Michael Weilguny: „Es ist Wahnsinn, was über viele kleine Aktionen zusammengetragen werden konnte.“
Doch, um den Verein tatsächlich zu retten, braucht es noch mehr. Zu hoch ist die benötigte Summe. Es braucht den FC Bayern. Und einen neuen Hauptsponsor.
13. Mai 2008: Benefizspiel gegen Bayern München
Extrem kurzfristig tut sich im Mai 2008 im Terminkalender des deutschen Rekordmeisters eine Lücke auf und der FCB erklärt sich dazu bereit, diese Lücke mit einem Benefizspiel am Böllenfalltor zu füllen. Uli Hoeneß betont: „Wir haben von verschiedenen Personen gehört, dass es hier in Darmstadt riesige Probleme gibt. Und es ist schön, dass wir helfen konnten.“
Doch zuvor musste in kürzester Zeit das größte Lilien-Spiel seit Jahrzehnten organisiert werden. Allein der Vorverkauf sprengt dabei jeglichen Rahmen, wie Jürgen Koch resümiert: „Wir standen zum Schluss auf 90.000 Euro in Bar und hatten keine Zeit, sie wegzubringen. Aber als wir auf diesem Stapel standen, da wusste ich, es wird funktionieren.“
Der Besuch der Bayern lockt 20.000 Zuschauer ans Bölle, das Spiel selbst endet mit 11:5 für den FCB. Ein Festtag, der wirtschaftlich einen weiteren Schritt für die Lilien bedeutet, wie Kessler heute zusammenfasst: „Die Bayern haben ganz erheblich zur Sanierung der 98er beigetragen.“
22. Mai 2008: Software AG wird Hauptsponsor
Nur wenige Tage später können die Lilien erneut Erfreuliches vermelden. Die Software AG wird neuer Hauptsponsor – ein besonderes Geschenk anlässlich des 110. Vereinsjubiläums des SV 98 und ein weiterer Schritt in Richtung Rettung. Markus Pfitzner: „Man konnte sehen, dass es funktionieren könnte. Auch wenn es nicht klar war, dass es funktionieren wird.“
Es dauert allerdings noch ein gutes Jahr, bis die Rettung der Lilien tatsächlich vollendet werden kann. Im März 2009 fehlt dem SV 98 weiterhin ein Betrag von rund 400.000 Euro, um die Insolvenz abwenden zu können.
Dank weiterer zahlreicher Aktionen, einem ordentlichen Zuschauerzuspruch rund um die Heimspiele des (nunmehr wieder Regionalligisten) SV 98 und der finanzieller Unterstützung von neuen Sponsoren und ehemals handelnder Personen kann die Summe aufgebracht werden und Kessler verkündet am 31. Mai 2009: „Jetzt schreiben wir das letzte Kapitel der Rücknahme des Insolvenzantrages.“
3. Juni 2009: Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zurückgenommen
Am 3. Juni 2009 zieht der SV 98 den Antrag offiziell zurück. Ein denkwürdiger Tag nach monatelangem Existenzkampf. Rüdiger Fritsch: „Wir haben die Rücknahme per Fax weggeschickt und alle um das Gerät herumgestanden und sehnsüchtig auf den Dokumentationsbericht gewartet. Als die Info kam, dass das Fax durchgegangen ist, waren wir wieder ein freier Verein.“
Es sind Erinnerungen, die die Tätigkeiten der heute handelnden Personen beim SV 98 noch immer beeinflussen, wie Anne Baumann (seit 2008 Präsidiumsmitglied für Finanzen) verdeutlicht: „Es tut uns gut, immer wieder mit Demut darauf zurückzublicken und nicht zu vergessen, wo wir herkommen.“
Doch die Zeitspanne zwischen dem Dezember 2007 und dem Juni 2009 war und ist eine prägende für die Lilien. Wirtschaftlich, aber auch emotional, wie Hans Kessler verdeutlicht: „Das hat den Verein wieder zusammengeschweißt“, und Jürgen Koch ergänzt: „Es ist eine unheimliche Solidarität und Gemeinschaft entstanden, die man bis heute spürt.“